florian berger

Zur Nazi-Demo in Chemnitz am 27. August 2018

Mein Aufruf an #dasandereSachsen. Und meine Fragen an die Behörden.

Diesen Brief schrieb ich nach der Nazi-Demo in Chemnitz am 27. August 2018 an Familie und Freunde in und aus Sachsen.

In der Nacht zum vergangenen Sonntag kam es in Chemnitz zu einem Messerangriff, infolge dessen ein Mensch starb.

Am Sonntag nutzte das ein bis zu 1000 Menschen starker Mob aus Hooligans und Rechtsextremen, um durch Chemnitz zu ziehen und Passanten insbesondere migrantischen Aussehens und Polizisten zu jagen. Die Polizei konnte dem nichts entgegensetzen.

Infolge der bedrohlichen Lage durch unkontrollierbare gewaltbereite Rechte brach die Stadt das Chemnitzer Stadtfest ab. Das Motto der Rechten war "Zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat", die Rufe waren "Das ist unsere Stadt" und "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!"

Eine Beschreibung des Geschehens hat die ZEIT, das Recherchekollektiv Dresden hat Videos gesammelt.

Für den folgenden Tag - heute - mobilisierten die Rechten zu einer diesmal organisierteren Kundgebung mit Demonstration. Mehrere tausend Rechtsextreme folgten dem Aufruf heute nach Chemnitz. Dagegen formierte sich ein Gegenprotest von zwischenzeitlich etwa 2000 Menschen. Die Polizei war Beobachtern zufolge massiv unterbesetzt und wäre mit gefühlten drei Hundertschaften außerstande gewesen, eine Eskalation zu beherrschen. Die Rechtsextremen traten aggressiv auf, es gab Morddrohungen gegen anwesende Journalisten, Angriffe mit Pyrotechnik und Menschenjagden.

Zum Ende der Demonstration beherrschten die sich verteilenden Neonazis das Stadtgebiet, es gab Überfälle, Angriffe und Verletzte. Die Polizei konnte Gegendemonstranten und Journalisten nicht schützen.

Freunde von mir waren heute mittendrin.

Das alles geschieht in unserem Bundesland, unserer Nachbarstadt, einen Katzensprung von uns entfernt. Es ist 2018, und Rechtsextreme können sich die Herrschaft über die Straße nehmen wann sie wollen. Unser Freistaat zeigt sich willen- und machtlos, und vor unserer Nase werden Journalisten bedroht und Menschen in Angst durch die Straßen gehetzt, verprügelt und blutend am Boden zurückgelassen.

Es geschieht in einem Klima, in dem "jagen" als politische Kampf-Ansage durchgeht, in dem Hetze gegen Schwache, Arme, Schutzbedürftige oder einfach Andershautfarbige salonfähig geworden ist, immer wieder und weiter und bis tief in die frühere Mitte hinein. Ein Klima, in dem eine stumme, mit ihrem bedrohungsfreien Alltag beschäftigte Mehrheit einer aggressiven rassistischen Minderheit das Gefühl gibt, sich öffentlichen Raum und Debatten aneignen und andere dort bedrohen zu können wie sie möchte.

Ich finde: es reicht jetzt. Ich finde, wir können uns nicht mehr darauf beschränken, diese erschreckende Entwicklung am Frühstückstisch unschön zu finden, und dann in unsere Büros, Praxen, Kitas, Unis und Kliniken zu fahren und weiter zu machen, als wäre da nix. Die AfD ist in Sachsen zweitstärkste Kraft und liegt mit 24% weit vor den nachfolgenden Parteien. Wenn wir jetzt nichts tun - und zwar richtig etwas, das mit Mühe und Anstrengung verbunden ist - dann wird in Sachsen das Hetzen im Internet und das Hetzen durch die Straßen zum Alltag von uns allen, unseren Kindern und Enkeln gehören.

Was können wir tun?

Auf https://www.abgeordnetenwatch.de/sachsen könnt ihr mit eurer Postleitzahl die Landtags-Abgeordneten für euren Wahlkreis rausfinden. Sprecht mit denen, ruft sie an, macht einen Termin: lasst uns ihnen erklären, wie wütend wir sind und was für eine Furcht wir haben, was mit unseren Straßen und Städten und unserem Land geschieht. Und dass sie, insbesonderen wenn sie regieren, mal ihrer Verantwortung nachkommen und die rechten Machtbestrebungen im Großen und Kleinen endlich klar und hart bekämpfen sollen! Und alle unterstützen, die das schon tun!

Lasst uns zu Demonstrationen und Gegen-Demonstrationen gehen. Sichtbar sein. Zu denen gehen und die stärken, die was tun.

Lasst uns rechter Hetze und den Das-wird-man-doch-noch-sagen-Dürfern und Aber-die-Linken-Relativierern widersprechen, wo immer wir sie hören.

Lasst uns Hauskreise gründen. Mehr miteinander reden, uns gegenseitig aktivieren und anspornen. Uns politisieren. Uns aufwecken. Dies ist keine Zeit für den Rückzug ins Private.

Und lasst uns für die spenden, die sich in mühevollster Arbeit jeden Tag dem dumpfbraunen Alltags-Hass in Sachsen entgegenstellen. Es sind wenige, und sie haben zu wenig. Etwas zu geben haben wir alle.

Genau wie beim Klimawandel haben wir nicht unendlich Zeit dafür. Die Rechten arbeiten jeden Tag gegen uns, sie professionalisieren sich, und sie werden dreister und gieriger, je mehr wir sie lassen. Ich möchte nicht mehr in einem Land leben, in dem Freunde auf dem Heimweg nachts Angst haben müssen totgeschlagen zu werden. Ich möchte, das dieses Land anders wird. Das schaffen wir aber nur zusammen.

Ich brauche euch.

Bitte.

Florian

Und das sind meine Fragen an die Oberbürgermeisterin, an den Bürgermeister für Recht, Sicherheit und Umwelt, an die Chemnitzer Polizei-Präsidentin und den Landes-Polizei-Präsidenten. Tatsächlich habe ich nach gestern sehr viele Fragen, aber ich habe mich mal auf den sicheren Heimweg beschränkt.

Mit Entsetzen habe ich gestern den Verlauf der Demonstration von „Pro Chemnitz“ und der Gegendemonstration verfolgt. Chemnitzer Freunde von uns waren bis zum Ende auf dem angemeldeten Gegenprotest anwesend. Sie waren dabei Pyrotechnik- und Flaschenwürfen sowie versuchten und erfolgten gewalttätigen Angriffen aus der Versammlung von „Pro Chemnitz“ ausgesetzt.

Nach dem Ende beider Versammlungen konnten sie zwischen 21:30 und 22:15 Uhr nur unter akuter Gefahr für Leib und Leben in ihre Wohnungen zurückkehren. Ein Polizei-Geleit oder anderweitige Absicherung für den Heimweg stand nicht zur Verfügung. Tatsächlich war die Polizei auf Zentralhaltestelle, Stefan-Heym-Platz und Augustusburger Straße nicht annähernd in ausreichender Zahl präsent, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Stattdessen ging von hunderten unkontrolliert umherziehenden gewaltbereiten Rechts-Extremen eine progromartige Bedrohung gegen die körperliche Unversehrtheit aus. Selbst in Gruppen war der Weg zu Fuß nur in Angst und großer Vorsicht zu bewältigen.

Meine Fragen an Sie:

Wie kam es, dass durch offenbare Unterbesetzung staatlicher Organe die öffentliche Sicherheit insbesondere für ortsansässige Heimkehrende einer angemeldeten Gegenkundgebung nicht gewährleisten werden konnte? Bereits am Vortag waren Rechts-Extreme, darunter gewaltbereite, in vierstelliger Zahl durch die Stadt gezogen und hatten damit einen Abbruch des Stadtfestes provoziert. Die zwischenzeitliche massive Mobilisierung in der Hooligan-, Kameradschafts- und Neonazi-Szene war selbst für Laien zu verfolgen und wurde in den Medien berichtet. Wie kamen Sie angesichts dessen zu der Einschätzung, die bereitgestellten Kräfte und Maßnahmen seien ausreichend und die Demonstration von „Pro Chemnitz“ genehmigungsfähig?

Welche konkreten Maßnahmen planen Sie, um bei den nächsten Versammlungen dieser Art die öffentliche Sicherheit für alle Teilnehmenden, insbesondere Chemnitzer Bürger, bis zur Ankunft in ihrer Wohnung zu gewährleisten? Ich denke, dass wir darin übereinstimmen, dass eine Kapitulation der öffentlichen Sicherheit vor gewaltbereiten Gruppen und die Aufgabe des Gewalt-Monopols an dieselben keine Option sein kann. Genau das ist gestern Nacht jedoch geschehen. Wie wollen Sie dies demnächst verhindern?

Mit freundlichen Grüßen,

Florian Berger

Mal sehen, ob ich Antworten bekomme. Ich veröffentliche sie dann hier.